WÖLFE sind die besseren Chefs
Die Rudel-Chefs haben ihre „Firma“ fest im Griff. Aber sie sind auch fürsorglich und respektieren selbst den schwächsten Mitarbeiter. Und bei Gefahr opfern sie sich sogar für ihn.
Der
Mensch macht sich viele Tiere nutzbar, aber nur eines, den Hund, den handlichen Abkömmling des Wolfs, hat er sich zum Freund erkoren. Denn sein vom Wolf geerbtes Sozialverhalten befähigt den Hund,
sich in die menschliche Familie einzugliedern.
Der Mensch hängt vielen Tieren bösartige Eigenschaften an. Aber mit keinem anderen ängstigt er seine Kinder so sehr wie mit dem Wolf, dem listigen Rotkäppchen-Verführer und skrupellosen
Sieben-Geißlein-Fresser.
Zwar greift der Wolf so gut wie nie Menschen an, dennoch ist er völlig zu Recht das Symbol für vieles, was den Menschen beunruhigt und herausfordert:
* Der Wolf beißt vom selben Ende der Nahrungskette ab wie der am Rande der Wildnis wirtschaftende Bauer. Das Tier ist damit ein Fresskonkurrent des Menschen.
* Der Wolf ist von seinen physischen Kräften her ein ebenso schwaches, langsames und kurzsichtiges Wesen wie der Mensch, und wie dieser hat er sich rund um den Globus ausgebreitet.
* Wie der Mensch verdankt auch der Wolf seinen Erfolg in lebensfeindlicher Umgebung einer außerordentlich hoch entwickelten Fähigkeit zur Teamarbeit.
Bestes Beispiel dafür: eine Jagd auf Karibus in der kanadischen Tundra, beobachtet von einem Fernsehteam. Tagelang wandert eine Karibu-Herde nach Norden, ständig begleitet von einem Rudel Wölfe.
Diese starten ab und zu kleinere Attacken, doch die langbeinigen Karibus haben keine Probleme, jedes Mal durch ein paar flotte Sprünge zu entkommen.
Eines Tages verläuft die Jagd plötzlich ganz anders. Diesmal legt eines der ältesten Tiere des Wolfsrudels los. Die Karibu-Herde vergrößert auch diesmal mit ein paar Sätzen schnell wieder den
Abstand zum Jäger. Nur, und das ist neu: Die erfahrene alte Wölfin greift von einer ganz bestimmten Seite her an, um die Karibus in eine ganz bestimmte Richtung zu treiben. Und in dieser Richtung
haben sich die anderen Wölfe verteilt, als hätten sie sich abgesprochen.
Kaum
bricht die alte Wölfin ihre Verfolgung erschöpft ab, startet wie bei einem Staffellauf ein zweites Tier, das wildeste im Rudel, ein junger Draufgänger. Er hat die flüchtende Karibu-Herde schon eine
Weile beobachtet und am Rand eine kleine Gruppe ausgemacht, die zum größeren Teil entweder aus jungen naiven oder langsameren älteren Tieren besteht. Der junge Wolf sprengt diese kleine Gruppe von
der übrigen Herde ab. Ein gefährliches Unterfangen, denn bei diesem Manöver kann er leicht unter die Hufe der Karibus geraten. Das wäre sein Tod.
Die Abtrennung gelingt, Wolf Nummer 2 bleibt heil und ist nun ebenfalls mit seiner Kondition am Ende. Die nächste Ablösung kommt: ein junger, flinker Wolf, der jetzt genauso schnell ist wie die
schon etwas müde gewordene isolierte Karibu-Gruppe. Auch der dritte Jäger greift noch nicht richtig an. Er treibt die flüchtenden Rentiere in steiniges Gelände, in der Hoffnung, dass eines der
Karibus stolpert oder so langsam wird, dass der im Hintergrund lauernde Rest des Wolfsrudels aus der Deckung brechen kann für das blutige Ende der Jagd.
Nicht jeder Beutezeug läuft so ab. Aber die hier geschilderte Stafettenjagd ist aus einem besonderen Grund interessant: Sie zeigt die Kunst der Wölfe, die unterschiedlichen Fähigkeiten und
Charaktere der einzelnen Rudelmitglieder nicht nur zu bündeln, sondern zielgerichtet für spezielle Aufgaben so einzusetzen, dass perfekte Zusammenarbeit entsteht.
Auf diese Weise wird das Wolfsrudel nicht nur zu einer Musterfamilie, sondern ebenso zu einer Art Modell für betriebliche Personalführung. Auch die Mehrzahl aller Firmen muß sich ja mit der
Grundfrage des Wolfsrudels herumschlagen: Wie setzen wir unsere Mitarbeiter mit ihren jeweiligen Vorzügen und Mängeln so ein, dass ein überdurchschnittlicher geschäftlicher Erfolg
herauskommt?
Tun wir einmal so, als wäre es P.M. gelungen, einem erfahrenen Wolf das Reden beizubringen. Das Interview mit ihm sähe etwa so aus:
P.M.: Herr Wolf, wem gehört Ihre Firma?
Wolf: Allen, die zum Team gehören. Wir teilen den Gewinn auf. Allerdings dürfen sich nach erfolgreicher Jagd die Rudelführer zuerst sattfressen, die anderen müssen warten. Diese Reihenfolge ist sinnvoll, weil die Rudelführer von ihrem Beuteanteil wieder eine Menge für die Rudel-Babys herauswürgen müssen. Denn bei uns wird der Nachwuchs, so lange er noch so klein ist, dass er nur vorverdaute Nahrung aus dem Magen seiner Eltern vertragen kann, von den Chefs versorgt.
P.M.: Chefs oder Chef? Gibt es denn mehr als einen Alpha im Rudel?
Wolf: Jedes Team hat zwei Chefs. Das stärkste Männchen ist Alpha der Männer-Abteilung, das stärkste Weibchen führt die Frauen an. Zwischen Männern und Frauen herrscht im übrigen Gleichberechtigung. Die Frauen haben sich an der Jagd zu beteiligen, die Männer an der Kinderbetreuung. Das gilt für alle, egal, welchen Rang das einzelne Tier in der Firmenhierarchie einnimmt.
P.M.: Gleichberechtigung und strenge Hierarchie – wie passt das zusammen?
Wolf: Die Hierarchie zählt nur bei wichtigen Entscheidungen. Zum Beispiel, wenn im Herbst entschieden werden muß, in welche Richtung das Rudel wandern soll.
Das erfahrenste Tier sagt, wo es langgeht. Ansonsten sind die ranghöheren Tiere ständig bemüht, die nachgeordneten bei Laune zu halten. Alle paar Stunden laufen alle Rudelmitglieder zu einem
großen Knäuel zusammen, beschmusen und belecken einander, bauen Ärger ab. Dann stimmen alle in das große Heulkonzert ein, mit dem die Wölfe ihren Gefühlsstau abreagieren, ihre Verbundenheit
beschwören und gemeinsam ihren Revieranspruch gegenüber benachbarten Rudeln und vagabundierenden Einzelgängern bekunden.
P.M.: Also nur Gleichheitsrituale statt echter Gleichberechtigung?
Wolf: Es geht um mehr als nur gönnerhafte Gesten der Bosse, damit das Gesinde nicht soviel meckert. Dahinter steckt die Anerkennung der unterschiedlichen
individuellen Fähigkeiten der einzelnen Rudelmitglieder. Wölfe sind der Meinung, dass die Rudelmitglieder zwar nicht gleich, aber doch gleich viel wert sind. In unserer Firma werden zum Beispiel
auch die Feiglinge als unverzichtbare Mitarbeiter anerkannt, obwohl sie zu schwach und zu ängstlich sind für eine wichtige Rolle bei der Jagd auf große Tiere wie Elche, Moschushirsche oder
Karibus. Unsere Angsthasen haben sich anders spezialisiert, sind Experten beim Erkennen von Gefahren und beim Aufspüren von Kleinwild wie Hasen, Mäusen und Hühnern oder von Aas. Das ist
überlebenswichtig, denn vor allem im arktischen Norden kommt uns manchmal wochenlang kein größeres Tier ins Revier.
P.M.: Was bleibt den Chefs dann überhaupt noch als Aufgabe? Was haben die Alphas denn noch zu melden, wenn jeder einzelne Wolf im Rudel dank seiner individuellen
Besonderheiten machen kann, was er will?
Wolf: Sie haben vor allem besondere Fürsorgepflichten zu erfüllen. Bei Gefahr übernehmen die Alphas den gefährlichsten Job. Wird ein Rudel von Menschen
gejagt, lassen sich die Chefs bei der Flucht zurückfallen, bieten sich als Ziel an und locken auf diese Weise die Verfolger auf eine Fährte, die wegführt vom Rudel.
P.M.: Nur Pflichten für die Chefs? Keine Rechte?
Wolf: Doch. Die Alphas werden durch zwei Privilegien entschädigt. Sie dürfen als Zeichen ihres Status ständig die Rute aufgerichtet tragen, alle anderen müssen in Gegenwart eines übergeordneten Rudelmitglieds den Schwanz respektvoll einziehen und bei der Futterverteilung demütig winseln. Außerdem dürfen sich wegen der Geburtenkontrolle nur die Alphas fortpflanzen; der Alpha-Mann mit der Alpha-Frau. Andere Kombinationen sind zwar möglich, aber nicht üblich.
P.M.: Warum nur eine einzige Sexualpartnerschaft in der Sippe?
Wolf: Unsere Firma achtet darauf, dass sie nicht mehr Bäuche mit Futter füllen muss, als Beute in unserem Revier zu holen ist. Wir haben ein gutes Gespür für das ökologische Gleichgewicht.
P.M.: Alle anderen Wölfe im Rudel finden sich mit dem Sexverbot ab?
Wolf: Mehr oder weniger. Wir sorgen dafür, dass jeder im Rudel zumindest emotional nicht unbefriedigt bleibt. Wenn wir nicht gerade jagen, fressen oder schlafen, tauschen wir Zärtlichkeiten aus und spielen miteinander. Die Chefs sind genauso verspielt und verschmust wie alle anderen. Der Anspruch der Alphas auf Unterwerfung der Betas bis Omegas wird nur dann verlangt und erfüllt, wenn es die Situation verlangt.
P.M.: Leiden die anderen Weibchen im Rudel nicht unter ihrer Kinderlosigkeit?
Wolf: Nein. Denn alle im Team beteiligen sich an der Betreuung und Erziehung der Alpha-Welpen. Die Tanten sind zärtliche Fürsorgerinnen und fleißige Futterbeschafferinnen. Manche werden scheinschwanger und können dann sogar beim Stillen helfen. Die Onkel sind lustige Spielkameraden und trainieren die Kleinen durch Balgereien und Verfolgungsspiele für die Jagd. Die Kinder der Alphas sind für jeden im Team wie die eigenen Kinder. Wir haben alle sehr viel Freunde aneinander, und das bindet uns dauerhaft zusammen. In unseren Betrieben ist das Personal unkündbar. Solange alle satt werden, wechselt keiner die Firma.
P.M.: Ohne Ausnahmen?
Wolf: Ausnahmen gibt es immer, und zwar bei allem, was die Wölfe machen. Sie sind individuelle, wilde Persönlichkeiten, die frei sein wollen und deshalb wie die Menschen ab und zu ganz gerne gegen die Regeln verstoßen. Wir sprechen hier nicht von unumstößlichen Gesetzen, sondern von üblichen Regeln, die durch Ausnahmen bestätigt werden. Selbstverständlich entwickeln sich in jedem Team auch Wölfe und Wölfinnen, die selbst einmal Alpha werden möchten. Die trennen sich eines Tages vom Rudel und müssen, bis sie ein eigenes Revier und einen Sexualpartner gefunden haben, eine schwere, gefährliche Zeit als Einzelgänger auf fremden Territorien überstehen. Meistens aber bleiben Wölfe weit über die Geschlechtsreife hinaus bei ihrem angestammten Rudel und nicht wenige bis an ihr Lebensende. Manche Rudel in beutereichen Revieren umfassen fast 30 Tiere.
P.M.: Keine Seitensprünge des Alpha-Wolfs mit einer Beta-Wölfin?
Wolf: Auch das kommt vor. Aber dann muss die Konkubine ihre Kinder weit außerhalb der Familie zur Welt bringen. Nur die Alpha-Wölfin genießt vor und während der Niederkunft den Schutz des ganzen Rudels. Der Alpha-Wolf besucht die Konkubine und ihre Welpen in ihrem Exil auch nur selten. Erst später darf sie mit den Überlebenden des Wurfs ins Rudel zurückkehren und wird mit ihren Kindern wieder ein willkommener Teil der Lebens- und Jagdgemeinschaft sein. Dann sorgt auch die Alpha-Mutter für die unehelichen Bälger ihres Mannes.
P.M.: Und niemand sägt am Chefsessel?
Wolf: Natürlich wird gesägt. Und zwar ganz schnell. Das Team spürt sofort, wenn der Alpha-Wolf oder die Alpha-Wölfin durch Alter oder Invalidität nicht mehr die beste Lösung für die Führungsrolle darstellt. Dann übernimmt das jeweils kräftigste und erfahrenste Männchen oder Weibchen den frei gewordenen Part. Und dann gibt es auch automatisch eine neue Sexualgemeinschaft.
P.M.: Ohne Streit und Machtkampf?
Wolf: Ohne. Ein Alpha, der seine Führungsrolle abgibt, sieht sich nicht als Versager, revoltiert aber auch nicht gegen sein Schicksal. Er wird von seinem Nachfolger nicht gedemütigt oder fortgebissen. Die Alten dienen dem Team als Jäger, Spielgefährten und Kinderbetreuer so selbstverständlich und mit Freunde, als wären sie vorher niemals Alphas gewesen. Die ganze psychologisch heikle Situation der Ablösung wird unter uns Wölfen dadurch bereinigt, dass die seelische Bindung des einzelnen an alle anderen wichtiger ist als der eitle Stolz auf die Führungsrolle.
Das hätte der Wolf uns zu sagen, besäße er menschliche Intelligenz. Aber er besitzt sie nicht. Vielleicht hat er deshalb ein Sozialverhalten entwickelt, das so viel wärmer und herzlicher ist als jenes des gehirnlastigen Menschen. Zwar hilft auch diesem seine hochentwickelte Fähigkeit zu Teamwork über die Mängel seiner natürlichen physischen Ausstattung hinweg, doch zu dieser Kooperation findet der Mensch vor allem durch Vernunft. Die Wölfe gewinnen einander durch Liebe und Zärtlichkeit zur Zusammenarbeit. Und die ist erfolgreich.
Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Wissenschaftsmagazins „P.M.“, Ausgabe 1/1995 (Picture Press), Autor Reinhold Dörrzapf